Einbecker Empfehlungen der DGMR zu unerwarteten und unerwünschten Strafbarkeitsrisiken in der vertragsärztlichen Berufsausübung
13. Einbecker Workshop der DGMR im Oktober 2010
I. Einleitung
Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V. hat vom 22. bis 24.10.2010 ihren 13. Einbecker Workshop unter dem Titel: “Der Arzt im Wirtschaftsrecht – Unerwartete und unerwünschte Strafbarkeitsrisiken in der vertragsärztlichen Berufsausübung” durchgeführt. Als Tagungsergebnis wurden die nachfolgenden Empfehlungen verabschiedet:
II. Definitonen
- Der Vertragsarzt in Klinik und Praxis gerät zunehmend in strafrechtlich relevante Konfliktsituationen, die sich für ihn als “unerwartet” darstellen. In solchen Situationen rechnet er nicht damit, dass sein Handeln auch spezifisch strafrechtlichen Anforderungen gerecht werden muss. Diesem Umstand kommt insofern Relevanz zu, als der Straftäter nicht nur alle Sachverhaltsumstände kennen, sondern er zudem “Bedeutungskenntnis” haben muss. Der Arzt muss also durch eine “Parallelwertung in der Laiensphäre” die Bedeutung der Umstände nachvollziehen können, die eine Strafbarkeit begründen.
- Daneben sind Konfliktsituationen des ärztlichen Berufsalltags auszumachen, in denen entgegen der höchstrichterlichen Rechtsprechung fraglich ist, ob das jeweilige ärztliche Handeln strafbar ist bzw. in Anbetracht des Gesetzes-/Strafzwecks überhaupt strafbar sein sollte. Die extensive Ausdehnung der Straftatbestände durch die Rechtsprechung führt insofern zu “unerwünschten” Strafbarkeitsrisiken. Eine solche Überdehnung der Straftatbestände ist auch nicht erforderlich, da andere geeignete Sanktionierungsmöglichkeiten im Bereich der ärztlichen Selbstverwaltung bestehen.
III. Sozialversicherungsrechtliche und berufsrechtliche Aspekte
Mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz und der ihm nachfolgenden Gesetzgebung und untergesetzlichen Normsetzung sind die tatsächlichen und rechtlichen Strukturen und Voraussetzungen der Berufsausübung der im Bereich der GKV tätigen Ärzte erheblich erweitert worden. Dies gilt namentlich für die stärkere Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgungsbereiche und für die Gestaltungs- und Kooperationsmöglichkeiten in der ärztlichen Berufsausübung sowie der damit verbundenen abrechnungstechnischen Intransparenz und erhöhten Fehleranfälligkeit. Diese differenzierten und komplexen Rechtsrahmenbedingungen werfen viele zum Teil ungeklärte und im Einzelnen umstrittene Rechtsfragen auf.
- Es empfiehlt sich daher, diese Rechtsrahmenbedingungen insgesamt wieder zu vereinfachen und für die Beteiligten transparenter zu machen und damit für eine rechtssichere Basis der ärztlichen Berufsausübung im Bereich der GKV zu sorgen. Dies gilt namentlich für die Voraussetzungen der Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung, für Anstellungsmöglichkeiten und für die Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen.
- Die zuständigen ärztlichen Selbstverwaltungskörperschaften, wie Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen, sollten zu den im Einzelnen rechtlich strittigen Rechtsfragen Klarstellungen vornehmen, damit sich die Ärzte im Bereich der GKV an diesen Handlungsempfehlungen rechtssicher orientieren können und damit etwaigen Sanktionen entgehen.
- Gleichzeitig wird empfohlen, in das Curriculum des Studiums der Human- und Zahnmedizin sowie in die Fort- und Weiterbildung der Ärzte, insbesondere im Hinblick auf eine Tätigkeit im Bereich der GKV, eine intensive Vermittlung der maßgeblichen Rechtsrahmenbedingungen der ärztlichen Berufsausübung als Pflichtfach aufzunehmen. Die Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung sollte – wie bereits im vertragszahnärztlichen Bereich – vom Nachweis einer erfolgreichen Teilnahme an einer entsprechenden Schulungsmaßnahme abhängen, welche für zulassungswillige Ärzte von den zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen anzubieten ist. Insoweit ist eine wechselseitige Anerkennung der Schulungsmaßnahmen unter den Kassenärztlichen Vereinigungen sicherzustellen.
- Der freiberuflich und eigenverantwortlich tätige Vertragsarzt versteht sich in Übereinstimmung mit der ärztlichen Berufsordnung zu Recht in erster Linie als Sachwalter der Gesundheitsinteressen seiner Patienten. Wenngleich ihm im Bereich der GKV in öffentlich-rechtlicher Hinsicht durch die Vorgaben des Sozialversicherungsrechts Beschränkungen (z.B. Wirtschaftlichkeitsgebot, Zulassungskriterien) auferlegt sind, ist er im Regelfall mangels bestehender Vertragsbeziehungen nicht “Vertreter” oder “Beauftragter” der gesetzlichen Krankenkassen.
- Die Prüfung eines Anfangsverdachtes nach § 81a Abs. 4 SGB V durch die Kassenärztlichen Vereinigungen muss immer auch subjektive Umstände umfassen. Unterliegt der Arzt danach einem Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB), weil er z.B. die objektive Unrichtigkeit einer vertragsärztlichen Abrechnung nicht kennt, handelt er nur fahrlässig und erfüllt damit keinen vermögensrechtlichen Straftatbestand. In diesen Fällen besteht kein Anfangsverdacht und damit keine Befugnis der Kassenärztlichen Vereinigung zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf einer Strafvereitelung nach § 258 StGB durch unterbliebene Unterrichtung der Staatsanwaltschaft ist in diesen Fällen unbegründet.
- In den Prüfungsverfahren der Kassenärztlichen Vereinigungen hat der Vertragsarzt umfassende, mit Zwangsmitteln durchsetzbare Offenbarungs- und Auskunftspflichten gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung. Soweit er sich im Rahmen dieses Auskunftsverlangens selbst belastet, besteht ein verfassungsrechtlich abgesichertes absolutes Beweisverwendungsverbot (nemo tenetur). In dieser Weise offenbarte Tatsachen dürfen weder bei der Prüfung des Anfangsverdachts von der Kassenärztlichen Vereinigung noch in einem Strafverfahren berücksichtigt werden. Anderweitig erlangte Erkenntnisse bleiben davon unberührt.
IV. Strafrechtliche und verfahrensrechtliche Aspekte
Die strafrechtliche Bewertung knüpft an die sozialversicherungsrechtlichen Erkenntnisse und Maßgaben an und macht diese zum Gegenstand einer eigenständigen Bewertung.
- Eine Strafbarkeit des Vertragsarztes nach § 299 StGB (Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr) scheidet deshalb tatbestandlich aus, weil der Vertragsarzt kein “Beauftragter” der gesetzlichen Krankenkassen ist, s.o. Ziffer III. 4.
- Eine Strafbarkeit des Vertragsarztes nach § 266 StGB (Untreue) kommt nur bei Vorliegen einer Vermögensbetreuungspflicht des Vertragsarztes in Betracht, was in den Einzelheiten streitig ist. Jedenfalls folgt nicht aus jedem Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialversicherungsrechts eine Strafbarkeit wegen Untreue.
- Da der Vertragsarzt im Übrigen aber regelmäßig kein Bewusstsein für die von der Rechtsprechung vorgenommene Zuweisung in das Lager der Krankenkasse hat, kann es ihm auch an einem Bewusstsein für die aus diesem (behaupteten) Näheverhältnis entspringenden Pflichten fehlen. In diesen Fällen kann er einem Schuld ausschließenden Verbotsirrtum nach § 17 StGB unterliegen.
- Sowohl im Hinblick auf den Straftatbestand der Untreue, § 266 StGB, als auch der Angestelltenbestechung, § 299 StGB, ist zudem eine sorgfältige Prüfung der subjektiven Tatseite unerlässlich, um der extensiven Anwendung dieser ohnehin in ihren Grenzen und Voraussetzungen vagen und verschwommenen Delikte entgegenzutreten. Abgesehen von den in der Rechtsprechung hierzu anzutreffenden sozialrechtlich unzureichenden Begründungen bieten Berufs- und Heilmittelwerberecht eine ausreichende Handhabe gegen unzulässige Einflussnahmen auf die vertragsärztlichen Verordnungsentscheidungen, so dass es einer zusätzlichen strafrechtlichen Ahndung auch nicht bedarf.
- Es wird nachdrücklich empfohlen, die streng formale Betrachtungsweise zur Frage des Vorliegens eines Vermögensschadens im Bereich des Sozialversicherungsrechts nicht auf die strafrechtliche Beurteilung des Betrugstatbestands nach § 263 StGB zu übertragen. § 263 StGB schützt nur das Vermögen. Eine Ausweitung der Schutzrichtung dieses Straftatbestands ist weder rechtsdogmatisch zulässig noch rechtspolitisch erforderlich. § 263 StGB ist kein Tatbestand des “Sozialversicherungsbetrugs”, der neben den allgemeinen Vermögensinteressen der Versichertengemeinschaft auch noch deren weitergehende, sozialpolitische Interessen schützt. Die Sanktionierung von anderen Schutzgütern als dem Vermögen durch § 263 StGB ist daher rechtswidrig.
- In den Fällen der medizinisch lege artis erbrachten vertragsärztlichen Leistungen liegt ein Vermögensschaden im Sinne des Betrugs- und Untreuetatbestandes nicht allein deshalb vor, weil gegen Ordnungsvorschriften des Vertragsarztrechts, z.B. die Ärzte-Zulassungsverordnung, verstoßen wurde.
- Mit dem in die Diskussion um den Vertragsarztabrechnungsbetrug eingeführten Begriff des “leistungsbezogenen Schadenselements” wird auf die Grundlagen der Schadensermittlung beim Anstellungsbetrug zurückgegriffen. Die Qualifikation dessen, der die Leistung erbringt, zählt zu den Wert bildenden Faktoren.Ein Vermögensschaden im Sinne von § 263 StGB ist daher in den Fällen der Scheingesellschaft (unechte Gemeinschaftspraxis) und der Strohmannfälle (Leistungserbringung durch nicht zugelassenen Arzt – Abrechnung durch Vertragsarzt) nicht gegeben. Dies gilt gleichermaßen für die Fälle der Delegation ärztlicher Leistungen, wenn es dabei durch die Verlagerung auf den Delegationsempfänger nicht zur Erbringung einer qualitativ minderwertigen Leistung kommt. Ein leistungsbezogener Vermögensschaden kann indes in den Fällen angenommen werden, in denen die Leistungsdurchführung gerade von einer besonderen Qualifikation des Leistenden abhängt.
- Bei objektiven unerwarteten Rechtsverstößen gegen zulassungsrechtliche und abrechnungsrechtliche Regelungen des Vertragsarztrechts, die keinen Vermögensschaden im strafrechtlichen Sinne darstellen, bestehen auch keine Sanktionslücken. Hierzu stehen Maßnahmen nach den Disziplinarordnungen der Kassenärztlichen Vereinigungen ebenso zu Verfügung wie die berufsgerichtlichen Verfahren der Ärztekammern, denen in diesem Zusammenhang eine stärkere Beachtung geschenkt werden sollte.
- Es wird empfohlen, bei den Staatsanwaltschaften wegen der spezifischen Fragestellungen des Vertragsarztrechts und des sonstigen Rechts der ärztlichen Berufsausübung besondere Fachabteilungen einzurichten. Die zuständigen Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden sollten im Rahmen ermittlungsnotwendiger Eingriffe in die Berufs- und Privatsphäre betroffener Ärzte die Besonderheiten des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient stärker berücksichtigen.
Einbeck im November 2010
Das Präsidium der DGMR e.V