Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht e.V. (DGMR) hat vom 24. – 26. März 1995 in Einbeck einen Workshop zu den “Medizinrechtlichen Aspekten der Therapieverweigerung bei Kindern und Jugendlichen” veranstaltet, als dessen Ergebnis die folgenden Empfehlungen erarbeitet wurden:

  1. Das Problem der Therapieverweigerung ist gekennzeichnet durch einen Konflikt zwischen dem Interesse des Patienten, den Vorstellungen der Sorgeberechtigten und/oder den Erkenntnissen des Arztes. Diese Situation ist insbesondere dann gegeben, wenn die Eltern oder das Kind die Vornahme einer Therapie ablehnen, die geeignet ist, das Leben des Kindes zu erhalten oder schwerwiegende dauerhafte Schäden der körperlichen und geistigen Entwicklung zu verhindern. Problematisch ist auch das Verlangen nach medizinisch nicht indizierter Therapie.
  2. Das Kind hat aufgrund seines Rechts auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz) einen Anspruch auf bestmögliche medizinische Betreuung. Den Eltern steht das Personensorgerecht für ihr Kind als eigenes, in Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz gewährleistetes Grundrecht zu. Dieses Elternrecht ist jedoch begrenzt durch das Wohl des Kindes. Lehnen die Personensorgeberechtigten eine ärztlich empfohlene Therapie ab, können diese Grundrechtspositionen in Konflikt geraten.
  3. Grundsätzlich setzt der ärztliche Heileingriff neben der Indikation die Einwilligung des Betroffenen voraus. Entscheidungen Dritter sind bei bestehender Einwilligungsfähigkeit (Einsichts- und Urteilsfähigkeit) unerheblich, denn das Einwilligungserfordernis ist Ausfluß des Selbstbestimmungsrechts und kann nur in Ausnahmefällen durch Entscheidungen Dritter ersetzt werden.
  4. Andererseits darf das Fehlen der Einwilligungsfähigkeit dem Betroffenen nicht zum Nachteil gereichen. Im Regelfall sind die Eltern als Sorgeberechtigte natürliche Sachwalter des nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen und hieraus berechtigt und gegebenenfalls verpflichtet, an seiner Statt die Entscheidung zu treffen.
  5. Der Arzt stellt die Einwilligungsfähigkeit eigenverantwortlich fest, ggf unter Nutzung anderer entscheidungsrelevanter patientenbezogener Erkenntnisquellen. Er trägt für das Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit die Beweislast. Hieraus leiten sich auch besondere Dokumentationserfordernisse ab.
  6. Das Alter des Patienten ist schließlich nur ein Anhaltspunkt im Rahmen einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Unterhalb der gesetzlich festgelegten Grenze für die Geschäftsfähigkeit einer Person gibt es keine starren Altersgrenzen für die Annahme des Vorliegens der Einwilligungsfähigkeit.
  7. Für die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit eines Minderjährigen sind alle körperlichen und geistig-seelischen Befunde heranzuziehen. Die Einwilligungsfähigkeit ist in bezug auf die Schwere der Erkrankung und die Auswirkungen der Therapie zu beurteilen. Anhaltspunkte für die Einwilligungsfähigkeit sind insbesondere die Fähigkeit des Kindes, dem Aufklärungsgespräch zu folgen, Fragen zu stellen, das Für und Wider abzuwägen sowie die besondere eigene Situation zu erfassen und sich dazu zu äußern.
  8. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ein Minderjähriger im Verlauf einer schweren Erkrankung in die Einwilligungsfähigkeit hineinwachsen kann. Diese Möglichkeit erfordert eine wiederholte Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit.
  9. Bei bestehender Einwilligungsfähigkeit des Minderjährigen kommt es allein auf seine Entscheidung an. Damit erlischt die aus dem Sorgerecht abgeleitete Entscheidungsbefugnis der Sorgeberechtigten.
  10. Fehlt dem Kind die Einwilligungsfähigkeit, entscheiden die Sorgeberechtigten. An diese Entscheidung ist der Arzt gebunden, es sei denn, daß sie zu einer Gefährdung des Kindeswohls fährt.
  11. Wenn zwischen den Eltern und dem Arzt keine Einigkeit besteht, ob ärztliche Maßnahmen beziehungsweise weiche dem Wohl des Kindes bestmöglich dienen und alle Möglichkeiten einer Einigung, auch unter Hinzuziehung medizinisch kompetenter Dritter aus-, geschöpft wurden, ist die rechtliche Entscheidung unter Berücksichtigung aller physischen und psychischen, gegenwärtigen und zukünftigen Umstände zu treffen.
  12. Bei dieser Beurteilung sind insbesondere zu berücksichtigen die Folgewirkungen der Entscheidung der oder des Sorgeberechtigten auf das körperliche und seelische Wohl des Minderjährigen, das Verhältnis von Chancen und Risiken, von Nutzen und Belastungen der abgelehnten ‘Therapie sowie der Hintergrund, die Beweggründe und die Ziele der Ablehnung. Medizinische Möglichkeiten dürfen nicht allein maßgebendes Element der Entscheidung sein. Primat ärztlichen Handelns muß die Herbeiführung einer von allen Beteiligten getragenen Entscheidung im wohlverstandenen Interesse des Kindes sein.
  13. Bei erkennbarem Verstoß gegen die Sorgepflicht besteht nicht nur ein Behandlungsrecht, sondern auch eine Behandlungspflicht des Arztes. Bestehen die Sorgeberechtigten auf Realisierung von Vorstellungen, die einen Verstoß gegen das Wohl des Kindes bedeutet, muß der Arzt auf eine vormundschaftsgerichtliche Entscheidung hinwirken. Insoweit ist der Arzt nicht an seine Schweigepflicht gebunden.