DGMR Workshop 2003 – Empfehlungen

[MedR 2003, 711.]

Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V. hat gemeinsam mit der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen am 26. und 27. September 2003 in Berlin das 28. Symposion für Ärzte und Juristen veranstaltet. Als Ergebnis dieser Tagung wurden die nachstehenden Empfehlungen verabschiedet:

I. Problemstellung

Medizinische Behandlungs- und Entscheidungsabläufe in Klinik und Praxis werden vermehrt von einer Verknappung der zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen sowie durch äußere gesundheitsstrukturelle Faktoren beeinflusst. In der Ärzteschaft wird befürchtet, dass hierdurch eine zunehmende Fragmentierung und Entpersonalisierung der Arzt-Patientenbeziehung und eine in erster Linie von einem Kosten-Nutzen-Denken bestimmte Medizin entsteht. Vorgaben für schematisierte Diagnose- und Therapieverfahren in Form von medizinisch-wissenschaftlichen Leitlinien, klinischen Behandlungspfaden und anderen innerbetrieblichen Organisationsstrukturen bergen die Gefahr, und werden z.T. auch schon dazu benutzt, die Therapie- und Methodenwahlfreiheit einzuschränken und berühren damit das ärztliche Selbstverständnis. Es ist zu diskutieren, ob und welche rechtlichen Konsequenzen sich aus solchen Entwicklungen und Einflussfaktoren ergeben.

II. Medizinischer Standard und Leitlinien

  1. Der medizinische Standard gibt den jeweils aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand unter Berücksichtigung praktischer Erfahrung und professioneller Akzeptanz wieder. Er wird aus einzelnen Forschungsergebnissen, Lehrmeinungen und institutionalisierten Expertenkommissionen gewonnen und ist niedergelegt in Originalpublikationen, wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten und Lehrbüchern. Hieraus können sich verschiedene, aber auch gleichwertige Behandlungswege ergeben. Dieser Standard kennzeichnet den Maßstab für medizinische Behandlungsabläufe, der sowohl für das ärztliche Berufsrecht, das Arzthaftungsrecht und die strafrechtliche Verantwortlichkeit als auch im sozialrechtlichen Behandlungsverhältnis gleichermaßen gilt, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V. Daher können auch die Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung von den behandelnden Ärzten die Einhaltung des Facharztstandards verlangen.
  2. Leitlinien sind in einem systematischen Konsensfindungsverfahren entwickelte Orientierungshilfen für eine angemessene medizinische Vorgehensweise bei bestimmten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und dienen damit verschiedenen Steuerungszwecken. Sie verfolgen in erster Linie die Sicherung und Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung in der ärztlichen Berufspraxis und sollten in das medizinische Bildungssystem einfließen. Zugleich sollten Leitlinien aber auch dazu beitragen, die Arzt-Patientenbeziehung durch größeren Informationsaustausch zu stärken, indem die Qualität der ärztlichen und pflegerischen Leistung und die menschliche Zuwendung verbessert werden. Die jeweiligen Steuerungszwecke der Leitlinie sind ausdrücklich zu benennen. Die Leitlinien sind im Übrigen stets Ausdruck privaten Sachverstandes.
    Medizinische Leitlinien werden in Deutschland allgemein nach ihren systematischen Entwicklungsstufen unterschieden:

    • informeller Konsens einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe, sog. S1-Leitlinien;
    • formale Konsensusverfahren (Konsensuskonferenz, Delphikonferenz) sog. S2-Leitlinien;
    • Leitlinien mit allen Elementen systematischer Entwicklung (Clearing-Verfahren), sog. S3-Leitlinien.

    Prioritäre Versorgungsabläufe, für die sog. Disease-Management-Programme (DMP) entwickelt werden, sollten vorwiegend durch S3-Leitlinien beschrieben werden.

  3. Solchen Leitlinien kommt unmittelbar keine rechtsverbindliche Wirkung zu, sie können also regelmäßig auch keine zusätzlichen Haftungsrisiken entstehen lassen. Ein Abweichen von medizinischen Leitlinien kann in Einzelfällen geboten und zulässig sein. Auch die Leitlinien, Empfehlungen oder Richtlinien der Bundesärztekammer und ihrer Ausschüsse entfalten regelmäßig keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit.Nur die aktuellen Regeln der Medizin bestimmen für spezifische ärztliche Maßnahmen den jeweiligen medizinischen Standard. Diese Regeln können sich in Leitlinien wieder spiegeln. Dies sollte für Leitlinien vermutet werden, die nach den Kriterien für S3-Leitlinien und in Clearing-Verfahren aufgestellt wurden sowie laufend aktualisiert werden. Nur in dieser Weise können Leitlinien über die zivilrechtlichen Vorschriften zur “im Verkehr erforderlichen Sorgfalt” zu einer Rechtspflicht und einem zivilrechtlichen Haftungsmaßstab verdichtet werden.
    Grundsätzlich orientiert sich auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit in objektiver Hinsicht an der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (Facharztstandard). Bei Einhaltung eines in Leitlinien festgelegten Vorgehens wird dem Arzt jedoch regelmäßig in strafrechtlicher Hinsicht kein subjektiver Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen sein, es sei denn, dem Arzt sind die Unzulänglichkeit der Leitlinie oder das Vorliegen eines atypischen Einzelfalles bekannt.
  4. Die wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften haben in den letzten Jahren eine Vielzahl von Leitlinien der unterschiedlichen Entwicklungsstufen erarbeitet. Eine Vereinheitlichung und Klarstellung dieser sich teilweise widersprechenden Leitlinien ist im Hinblick auf ihre Akzeptanz bei den Anwendern und ihre rechtliche Relevanz erforderlich. Es ist daher zu begrüßen, dass Harmonisierungen in Clearing-Verfahren erfolgen, die aber auch die Vielfalt der unterschiedlichen gebietsbezogen Anforderungen berücksichtigen sollten.
  5. Soweit Leitlinien durch Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses zu bestimmten diagnostischen und therapeutischen Leistungen für die Vertragsärzte Verbindlichkeit unter Ausschluss der Abweichungsmöglichkeit zukommen soll, begegnet dies rechtlichen Bedenken. Es besteht nämlich die Gefahr, dass der medizinische Standard den Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses widerspricht. Dadurch können unterschiedliche Haftungs- und Verantwortungsmaßstäbe im Sozialrecht einerseits und im Zivil- und Strafrecht andererseits entstehen.Die Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen auf autonome Körperschaften und private Verbände im Sinne des Gemeinsamen Bundesausschusses ist verfassungsrechtlich zwar grundsätzlich nicht zu beanstanden. Sie ist aber nur zulässig, wenn in ihrer Umsetzung förmliche Anforderungen im Hinblick auf Verfahren, Mitwirkungsrechte, Transparenz und Verantwortung gewährleistet werden. Diesen Anforderungen muss sowohl die Erstellung der übernommenen Leitlinien als auch die Übernahme selbst genügen. Hierbei sollten die in diesem Zusammenhang erstellten Empfehlungen des Europarates berücksichtigt werden (Rec [2001] 13 on developing a methodology for drawing up guidelines on best medical practices).

    Die Adaption der dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis verpflichteten Leitlinien der Fachgesellschaften an die primär nach Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Kriterien des Gemeinsamen Bundesausschusses kann zu einem Absenken der ärztlichen Qualitätsstandards führen. Qualitäts- und Finanzierbarkeitsüberlegungen sollten daher getrennt werden, um eine aus wirtschaftlichen Gründen intendierte Absenkung des erreichbaren Qualitätsniveaus zu vermeiden. Zwar ist ein nachrangiges Ziel der Leitlinien auch die Motivation zur ökonomisch angemessenen ärztlichen Vorgehensweise und die Vermeidung unnötiger Kosten, wirtschaftliche Aspekte dürfen für die Qualität und die Bestimmung des medizinischen Standards allerdings nicht im Vordergrund stehen.

  6. Leitlinien sollen als Steuerungsmittel und Orientierung für ärztliche Entscheidungen dienen und zu einem besseren Behandlungsergebnis führen (Entscheidungskorridor). Sie geben in der Regel jedoch keine Hinweise zum jeweiligen Erfahrungs- und Situationswissen und unterliegen aufgrund der leitlinientypischen Verkürzung komplexer Inhalte der Gefahr unzulässiger Vereinfachungen. Bei der Beschreibung emotionalen Wissens können sie persönliche Wertentscheidungen von Patient und Arzt tangieren. Diese begrenzte Wirkung von Leitlinien kann auch zu negativen Auswirkungen auf den ärztlichen Entscheidungsprozess und das Behandlungsergebnis führen. Es ist daher zu diskutieren, ob Leitlinien und ihre Anwendungsergebnisse regelmäßig einer empirischen Überprüfung unterzogen werden sollten. Insbesondere sollte geprüft werden, ob die Vorgabe einer Leitlinie mehr positive als negative Auswirkungen hat. Diese Aufgabe kann vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen im Rahmen seiner Zuständigkeit nach § 139 a Abs. 3 Ziffer 3 SGB V übernommen werden.
  7. Bislang zu wenig beachtet wurde die Möglichkeit einer zivilrechtlichen Haftung und strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Ersteller von Leitlinien. Sie ist wegen der überlegenen Sachkunde und der daraus resultierenden Vertrauensposition grundsätzlich denkbar. Dabei sind die dogmatischen Probleme der Strafbarkeit von Kollegialentscheidungen ebenso zu beachten wie diejenigen der Kausalität, der Täterschaft (mittelbar oder als Garant) und der Erfolgsabwendungspflicht. “Freizeichnungsklauseln” in Leitlinien vermindern die Verantwortlichkeit der Ersteller grundsätzlich nicht. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine fachlich überholte Leitlinie nicht ausreichend schnell überarbeitet oder zumindest offiziell für überholt erklärt wird. Soweit Leitlinien von öffentlich-rechtlichen Körperschaften oder Organen der gemeinsamen Selbstverwaltung mit verbindlicher Wirkung erstellt werden, sind die Grundsätze der Staatshaftung anzuwenden. Auch kartellrechtliche und wettbewerbsrechtliche Fragen können in Bezug auf die Leistungsanbieter auftreten, soweit von ihnen angebotene Produkte oder Dienstleistungen in den Leitlinien herausgestellt werden.

III. Unerwünschte Einwirkungen auf das Arzt-Patientenverhältnis

  1. Die ärztliche und pflegerische Versorgungsqualität ist gerade im Krankenhaus regelmäßig von einer stabilen und kontinuierlichen Arzt-Patienten-Beziehung abhängig. Moderne Arbeitszeitmodelle mit Schichtdiensten, die vom Europarecht gefordert werden, gefährden diese tragende emotionale Vertrauensbindung erheblich. Zudem dürfen solche personal-organisatorischen Veränderungen nicht zu einer Risiko erhöhenden Behandlungsweise führen.
  2. Die Leistungsdynamik des medizinischen Fortschritts selbst stellt einen der wichtigsten Gründe für die zunehmende Verknappung der Ressourcen in der medizinischen Versorgung dar. Rationalisierungsmaßnahmen tangieren dabei den medizinischen Standard in der Regel nicht und haben auf den zivilrechtlichen Haftungsmaßstab daher grundsätzlich keinen Einfluss. Demgegenüber ist die Rationierung bestimmter medizinischer Leistungen nur bei einer natürlichen Verknappung (z.B. bei der Organverteilung) oder einer gesetzlich geregelten Leistungsbeschränkung zulässig. Nur eine solche Rationierung führt zu einer Beeinträchtigung des medizinischen Standards und damit auch zu einer Anpassung der rechtlichen Haftungsmaßstäbe. Mangelnde Ressourcen dürfen dem einzelnen Arzt in strafrechtlicher Hinsicht jedoch subjektiv nicht zum Vorwurf gereichen.
  3. Im Übrigen aber nimmt die Rechtsprechung bei der Bestimmung des im Einzelfall gebotenen Haftungsmaßstabs richtiger Weise bisher nur sehr begrenzt Rücksicht auf verminderte Ressourcen in personeller oder wirtschaftlicher Hinsicht. Dies gilt grundsätzlich auch im Hinblick auf Begrenzungen der Budgets in der Gesetzlichen Sozialversicherung. Patienten müssen über bestehende Differenzen zwischen ökonomischen Vorgaben im sozialrechtlichen Bereich und dem medizinisch gebotenen Standard vom behandelnden Arzt informiert werden.
    Im Übrigen darf sich der medizinische Standard durch personelle, strukturelle und wirtschaftliche Einflüsse grundsätzlich nicht verringern; die Grenzen der wirtschaftlichen Rationalität gebieten es lediglich, dem Patienten nicht immer eine Maximaldiagnostik oder -therapie gewährleisten zu müssen. Bei verminderten Ressourcen ist daher regelmäßig eine Anpassung des strukturellen und/oder personellen Leistungsspektrums an das medizinisch objektiv Gebotene notwendig.
  4. Relevante Qualitätseinschränkungen in der ärztlichen und pflegerischen Versorgung der Bevölkerung sind derzeit bereits in einzelnen Fällen zu beklagen und verursachen gesamtgesellschaftliche Kosten, da die Sozialversicherung längerfristig belastet wird. Sparen und Kostendämpfungsmaßnahmen allein sind jedoch nicht geeignet, bestehenden Qualitätsverlusten zu begegnen.


Im September 2003

Das Präsidium der DGMR e.V